von Sven
Jeder kennt jemanden, der seine sexuelle Orientierung versteckt hält und genauso kennt wohl auch jeder jemanden, der völlig offen und selbstverständlich mit seinem Schwul Sein umgeht. Doch warum entscheiden wir uns ein Coming-Out zu haben und warum ist es für viele noch so schwierig offen zu sich selbst zu stehen? Umgangssprachlich wird das Coming-Out häufig nur „Outing“ genannt und steht für die englische Floskel „coming out the closet“ und bedeutet wörtlich „aus dem Kleiderschrank herauskommen“. Aber das Outing ist viel mehr – bevor wir den berühmten Satz „Mami, Papi, ich bin schwul!“ sagen können, steht ein langer Prozess, in dem sich Schwule und Lesben selbst akzeptieren müssen.
Genauso wie bei Heterosexuellen, werden Homosexuelle als schwul geboren. Die sexuelle Orientierung ist keine Entscheidung – man muss sich lediglich dafür entscheiden, ob man eine Lüge lebt oder ehrlich zu sich ist. Wissenschaftlich wurde belegt, dass genetische Faktoren die Sexualität mindestens mitbestimmen und sie postnatal (nach der Geburt) nicht veränderbar ist. Schwule müssen also in der Phase bis zum Coming-Out die häufig heteronormative Erziehung und Sozialisation wieder einreißen und akzeptieren, dass sie nicht zu der Mehrheit gehören. Jugendliche berichten oft von einem Moment, wo sie erkannt haben, dass sie anders sind. Dieser Moment der Erkenntnis anders zu sein, kann sehr schmerzhaft sein. Nicht ohne Grund liegt die Selbstmordrate unter homosexuellen Jugendlichen mehr als doppelt so hoch als bei heterosexuellen Gleichaltrigen. Ab diesem Punkt startet der Prozess des Coming-Outs. Es gibt zwei Phasen: Das innere Coming-Out und das äußere Coming-Out.
Zum inneren Bewusstsein - „Ja, ich bin schwul!“ – gehört für jeden Homosexuellen das innere Coming-Out, das jedoch viele verschiedene Formen annehmen kann. Manche merken und akzeptieren es an sich schon in der Pubertät und manche durchleben diese Phase erst mitten im Erwachsensein, nach den ersten Beziehungen oder während man möglicherweise schon verheiratet ist und Kinder hat. Das äußere Coming-Out ist das bekannte Outing, bei dem man in seinem sozialen Umfeld explizit offenbart, dass man selbst homosexuell ist. Doch die schlechte Nachricht für alle Homosexuelle ist es, dass Minderheiten in ihrem Leben immer wieder in Situationen kommen, in denen sie neu entscheiden müssen, sich zu outen oder die sexuelle Orientierung zu verheimlichen. Der Prozess ist somit ein Leben lang nicht abgeschlossen.
Das Coming-Out zu wagen, bedeutet Mut und Selbstvertrauen zu haben, da es auch ein Eingeständnis der Zugehörigkeit zu einer Minderheit bedeutet. „Schwul ist man nicht, das hat man sich hart erarbeitet“, heißt es der Gay Community, denn der Weg zum Outing ist nicht immer ein leichter und angenehmer Weg. Eine Studie der Universität Rochester liefert für alle Ungeouteten gute Gründe, den Schritt endlich zu wagen. Das Coming-Out macht gesund! So hat man herausgefunden, dass Homosexuelle, die in ihrem Umfeld Unterstützung von Kollegen, Freunden oder Verwandten erhalten, weit gesünder und glücklicher nach ihrem Outing sind als vorher. Das Gefühl befreit zu sein, wirkt sich besonders auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Betroffenen aus. Ebenfalls leiden geoutete Homosexuelle viel weniger an Wut und Depressionen.
Wie weitreichend das Outing führt, hängt von mehreren Faktoren ab. Zum einen outen sich Homosexuelle in Mittel- und Großstädte eher als diejenigen, die auf dem Land lebend. Das selektive Outing wird beim sozialen Umfeld besonders deutlich: Während sich 87% in ihrem Freundeskreis geoutet haben, sind es bei ihrer eigenen Familie bereits nur noch 64%. Die Zahlen fallen noch niedriger für den Arbeitsplatz (55%), in der Schule (50%) und in der Kirchengemeinde (31%) aus. Diese Zahlen verdeutlichen, dass Menschen ihr Umfeld bewerten und bestimmen, ob es dort sicher ist oder nicht. Ein Outing wird nach vielen Faktoren abgewogen, ob es sich erfolgreich gestalten kann oder nicht.
Manche Homosexuelle entscheiden sich für das Versteckspiel, denn ein Coming-Out ist keine Wohlfühl-Garantie. Die Selbstbestimmungstheorie des Soziologen Richard Ryan spielt in der Entscheidungsfindung für schwule Männer eine große Rolle. Demnach hat jeder Mensch drei universelle psychische Grundbedürfnisse: Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit. Sollten diese Bedürfnisse nicht erfüllt sein, neigen Schwule dazu, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen.
Aber der mühsame und manchmal so steinige Weg des Coming-Outs lohnt sich und wird mit der Zeit in Deutschland und weiten Teilen der Welt hoffentlich noch einfacher werden. Denn nur wenn wir in einer Gesellschaft aufwachsen, die uns Vielfalt (auch auf sexueller Ebene) vorlebt und diese fördert, dann muss sich niemand mehr Sorgen um das Coming-Out und die Konsequenzen machen. Die wohl wünschenswerteste Zukunftsvision ist, dass für Homosexuelle kein Outing mehr notwendig ist. Menschen lieben sich frei von gesellschaftlichen Normen und dem Druck der heteronormativen Majorität.
Wie war dein Coming-Out und in welchem Alter hast du es erlebt? Oder bist du bis heute noch ungeoutet und was ist der Grund dafür? Teile mit uns und der Gay.de-Community deine Erfahrungen und mach vielleicht anderen Mut auch ehrlich zu ihrer Sexualität zu stehen.
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