Mike und ich/Teil 93

Februar 10

Die Gegend in der Kristin wohnte kam mir allzu bekannt vor, da sie ja mit Dustin in meine alte Wohnung gezogen war, nachdem ich meinen Wohnsitz zu Mike verlegt hatte. Als mir Kristin die Tür öffnete, schaute ich in ein verquollenes Gesicht und nicht minder geschwollene Augen. Zudem machte sie einen erbärmlichen Gesamteindruck auf mich. Wortlos machte sie kehrt und ging ins Wohnzimmer. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte folgte ich ihr. Zusammen gesunken saß sie wie ein Häufchen Elend in der Sofaecke.

Nach einem kurzen Moment der Ruhe sprudelte es aus ihr heraus und sie erzählte mir, dass Dustin einen Job bei einem großen IT-Unternehmen angenommen habe. Zwar hätten beide mal kurz darüber gesprochen, dass er irgendwann mal bei einem Unternehmen im Ausland arbeiten möchte, aber konkret wäre nie etwas gewesen.

Auf ihre Frage, was denn mit ihrer Beziehung ist, wenn er in die USA geht, war seine Antwort, dass er in den nächsten Jahren sein berufliches Fortkommen im Focus hätte und für Beziehung keinerlei Raum sei. Wenn sie ihn lieben würde, müsste sie es eigentlich verstehen, hatte er ihr gesagt. Dann hätte er seine Sachen gepackt und wäre gegangen.

Nach Ende der Rede verfiel Kristin wieder in einen Heulkrampf. Ich setzte mich neben sie und nahm sie in den Arm, um sie zu trösten. Kurze Zeit später hatte sie sich beruhigt, sah mich an und sagte:“ Schön, dass du gekommen bist und mir zugehört hast. Ich weiß zwar, dass du nichts ändern kannst, aber Hauptsache du bist hier. Soll der blöde Arschbackenkasper doch zu den Amis gehen.

Der wird nie so tolle Freunde finden, wie ich sie hier habe.“ Dabei gab sie mir einen Kuss auf die Wange und drückte mich ganz doll.

„ Wenn du möchtest, nimm dir ruhig noch ein paar Tage Auszeit.“

„Nein, nein, davon ändert sich meine Situation eh nicht. Muss damit klar kommen, dass ich wieder Single bin. Hat auch seine guten Seiten. Ganz bestimmt. Morgen stehe ich wieder auf der Matte. Bis dahin müssten sich meine Heulsusenaugen wieder normalisiert haben.“

„Okay, wenn du meinst. Hatte es nur gut gemeint. Das Angebot steht, aber wenn du morgen wieder arbeiten willst, dann ist das auch okay.“

„Ja, Tom, bin morgen wieder an Bord. Und gaaaaanz lieben Dank noch mal, dass du gekommen bist und zugehört hast.“

Auf dem Weg nach Hause ging mir das Gehörte noch mal durch den Kopf und ich wünschte, dass die Verletzungen, die durch die Trennung in Kristins Inneren entstanden sind, schnell und ohne Narbenbildung heilen würden.

Als ich die Wohnung betrat, hörte ich Stimmen aus dem Wohnzimmer. Mikes Stimme erkannte ich, doch die andere, die einem jungen Mann gehören musste, kam mir zwar nicht bekannt vor, aber dennoch erschien sie mir nicht gänzlich unbekannt.

Mit einem „Hallo, ich bin wieder da.“ wollte ich den Raum betraten, kam aber nur bis zum „Hallo“ und dann verschlug es mir die Sprache, als ich denjenigen sah, mit dem sich Mike unterhielt.

„Na, dass ich das noch mal erleben würde, dass ich irgendetwas sprachlos macht,“ gluckste Mike.

Immer noch wie versteinert sah ich den Unbekannten an, der mir dennoch sehr, sehr bekannt vorkam. Ich blickte in ein freundlich lächelndes Gesicht mit blauen Augen. In ein Gesicht, wie es vor zwanzig Jahren das von Marvin gewesen sein muss.

„Nu komm wieder zu dir, Hase. Darf ich dir meinen Neffen Marc vorstellen?“

Sofort sprang dieser auf und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. „Schön, dass ich die jetzt endlich kennen lerne. Du bist Tom, nicht wahr? Der Freund, ähm Mann von Mike, ja?“

Immer noch wie paralysiert antwortete ich:“ Ja, ja, bin ich.“

Mike klopfte mit seiner Hand auf den Platz neben sich und zwinkerte mir neckisch zu. Nachdem ich mich gesetzt hatte, wurde ich, ehe ich nur eine einige Frage stellen konnte, mit Informationen zugeschüttet.

Marcs Mutter ist jene Mona, mit der Marvin während seiner Studienzeit hin und wieder Sex hatte.

Da sie nicht immer verhütet hatten ist der Grund gewesen, dass Marc bei uns im Wohnzimmer war.

Als Marc noch ein kleines Kind war, war es Mona zuviel geworden und sie hat sich aus dem Staub gemacht und den Jungen bei ihren Eltern gelassen. Jahrelang hatte sie nichts von sich hören lassen.

Viel später bekamen Marcs Großeltern die Nachricht, dass Drogenkonsum und Alkoholmissbrauch dazu geführt hatten, dass Marcs Mutter verstorben sei.

Die Großeltern gaben ihr Bestes, um dem Jungen eine einigermaßen angenehme Kindheit und Jugendzeit zu ermöglichen. Aber so sehr sie sich auch bemühten, es fehlte nicht nur die Mutter, sondern auch der Vater. Jahrelang kam der Name des Vaters nie zur Sprache und Marc Nachfragen wurden immer wieder abgetan. An seinem achtzehnten Geburtstag hatte ihm seine Oma, der Opa war zwischenzeitlich verstorben, den vollen Namen seines Vaters genannt und wo dieser damals gelebt hatte.

Und dann hatte Marc angefangen zu recherchieren. War sehr oft in Sackgassen geraten, hatte aber nie aufgegeben, seinen Vater zu finden. Dank Internet ist er seinem Ziel schließlich sehr nahe gekommen. Und jetzt, mit 24 Jahren ist er von seinem Ziel nur minimal entfernt.

Im Internet war er bei der Suche auf die Kanzlei gestoßen, in der Marvin gearbeitet hatte. In einem Artikel wurde sein Name erwähnt. Marc besuchte die Kanzlei, um Marvin zu treffen, aber dort erfuhr er, dass er nicht mehr dort beschäftigt sei. Die nette Sekretärin, die von Marc sehr angetan war, drückte ihn einen Zettel in die Hand, auf der die Adresse gestanden hatte, die Marvin in der Kanzlei hinterlassen hatte, falls noch Rückfragen aufgekommen wären. Und so war Marc jetzt bei uns gelandet und saß bei uns im Wohnzimmer.

Ich war noch etwas durch den Wind und fragte Mike: „Hast du Marvin schon informiert?“

„Yepp, habe ihn angerufen und gesagt, dass ein Marc Schumann hier bei uns ist und mit ihm sprechen möchte. Er und Stefan sind unterwegs, um Möbel für ihre neue Wohnung auszusuchen. Sie kommen nachher vorbei.“

„ Und Marc, was machst du jetzt? Meine beruflich?“

„Habe meinen Master in Informatik gemacht und orientiere mich jetzt auf dem Arbeitsmarkt. Das Passende habe ich bis jetzt noch nicht gefunden. Schaun wir mal. Bin da ganz zuversichtlich, dass sich etwas ergeben wird. Wer suchet der findet, nicht wahr? Zuerst muss ich mir eine Bleibe suchen, denn ein Hotel wird auf die Dauer doch etwas zu anstrengend für meine Finanzen.“ Als Marc das sagte, schauten Mike und ich uns wie auf Kommando an.“

„ Denkst du das, was ich denke,“ fragte mich Mike und hob dabei seine Augenbrauen.

„ Kann schon sein, nein, ich bin mir sicher, es ist das Gleiche. Spucks aus.“

„Also Folgenden Marc. Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Als Installateur kann ich dich mir nicht vorstellen, aber da gibt es eine Stiftung, deren Vorsitzender ich bin und zu der Stiftung gehört ein Wohnungsbauunternehmen. Und dieses Wohnungsbauunternehmen hat eine IT-Abteilung. Und ich könnte mir vorstellen, dass du in dieser IT-Abteilung bestimmt gut aufgehoben wärest.“

„Echt jetzt? Das wäre ja Bombe. Ist das wahr Mike, das bietest du mir an? Wie geil ist das denn.

Klaro würde ich dort gerne arbeiten. Und du als mein Chef, das könnte ich mir sehr gut vorstellen, so wie ich dich bis jetzt kennen gelernt habe.“

„Dein Chef wäre ich eigentlich nur indirekt. Die direkter Chef wäre Marvin, dein Vater.“

„ Hammer, aber der weiß doch gar nichts davon?“

„ Das geht bestimmt in Ordnung, Da bin ich mir mehr als sicher.“

„ Stimmt, das ist mir auch eingefallen,“ sagte ich mit einem Grinsen zu Mike.

„ Und was deine Wohnsituation angeht, hätte ich auch einen Vorschlag. Oder willst du es aussprechen, Tom?“

„ Gerne. Wir habe hier in der Wohnung ein Gästezimmer, dass du gerne nutzen kannst, bis du vielleicht eine für dich passende Wohnung gefunden hast.“

„Menno, ich kann es nicht fassen. Das auch noch? Ich glaub ich dreh durch. Danke, danke, danke.

Nicht nur für die tollen Angebote, sondern auch für euer Vertrauen, das ihr mir entgegenbringt.“

Und es war nicht zu übersehen, dass Marcs Augen vor Feuchtigkeit glänzten. Das machen nun mal Freudentränen.

„Darf ich euch drücken?“

Nachdem Mike kräftig von Marc gedrückt wurde, war ich an der Reihe, als plötzlich die Schelle schrillte. „Ah, da sind die beiden ja endlich,“ sagte Mike, stand auf und ging zur Wohnungstür.

Im Wohnzimmer wurde es totenstill und ich meinte, den Herzschlag von Marc hören zu können, was nicht auszuschließen war, da das pulsierende Blut in seinen Halsschlagadern diese richtig anschwellen ließ. Wie ein hypnotisiertes Kaninchen fixierte er den Eingang des Wohnzimmers, dem sich Stimmen und Schritte näherten.